Gerd Müller, der Bundesminister für Wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung, hat ein bewegendes Interview gegeben, das in Bezug auf Covid-19 weit über unseren Tellerrand hinaus schaut. Das ist eine Perspektive, die den Nachrichten bei uns fremd ist. Er sagt u.a.:
„Jeder denkt zunächst an sich selbst. Ein Stück weit ist das normal. Wir denken an unsere Familien. Wie bewältigen wir die Krise in Deutschland und in Europa? Aber wir sind nur ein kleiner Fleck auf diesem Planeten. Corona besiegen wir nur weltweit oder nicht. Das muss auch in Deutschland jedem klar sein. In Afrika sind 80 Prozent der Umsätze und Produktionskapazitäten weggebrochen. Investoren aus aller Welt haben innerhalb von wenigen Wochen 100 Milliarden Dollar abgezogen und lassen die Staaten und Menschen allein. … Rette dein Geld, war die Devise. Die Währungen sind um bis zu 50 Prozent eingebrochen.“
Die Krise, der Hunger und der Mord:
„Wenn wir nach Afrika blicken, geht es nicht nur um Covid-19 und die Frage, wie man Erkrankte vor dem Tod retten kann. Es herrscht dort bereits eine Wirtschafts-, Finanz- und Hungerkrise. … Die Lage in Lateinamerika ist schlimm. In Guatemala hängen die Menschen bereits weiße Fahnen ins Fenster, weil sie nichts zu essen haben. … In manchen Ländern arbeiten 90 Prozent der Erwachsenen als Tagelöhner. Da gibt es kein Hartz IV und auch kein Kurzarbeitergeld. Von was sollen die Menschen leben? Millionen Menschen stehen an der Schwelle des Hungertodes. Schon vor Corona starben täglich 15.000 Kinder an Unterernährung und fehlenden Medikamenten, obwohl wir das ändern könnten. Das ist ein Skandal. Ich sage, Hunger ist Mord. Wir schauen einfach zu, obwohl wir helfen könnten.“
Die Unruhen, die Flucht und Europa:
„Wir beobachten zunehmend Unruhen und wachsende terroristische Aktivitäten. In Nigeria zum Beispiel nutzt die Terrormiliz Boko Haram die Situation aus. Hunger und Elend machen die Menschen anfällig. Die Länder werden zunehmen instabil. Ziel der Terroristen ist es, die Regierungen zu stürzen. Wir sollten nicht warten, bis die Staaten zusammenbrechen und sich Millionen auf die Flucht vor Hunger und Terror begeben in Richtung Europa. Derzeit, und das sollten wir Europäer uns mal dick hinter die Ohren schreiben, finden 90 Prozent aller Flüchtlinge Zuflucht in armen Nachbarstaaten. Uganda hat eine Million Menschen aufgenommen, Äthiopien zwei. Die ärmsten Länder zeigen sich human und offen. Deshalb müssen wir diese Länder massiv unterstützen. Ein ganz besonderer Brennpunkt, der Europa sofort und unmittelbar betreffen wird, ist der Libanon. Dort leben über 1,5 Millionen Flüchtlinge auf dem Acker, seit über neun Jahren. Der libanesische Staat ist nahezu bankrott, hat kaum Möglichkeiten, den Flüchtlingen Brot und Wasser zu geben. Tun wir das nicht, haben die Menschen keine andere Wahl, als sich auf den Weg zu machen, dahin, wo sich überleben können. Durch Corona hat sich die Lage noch erheblich verschärft.“
Die Rüstung, die Armut und die Kriege:
„Die weltweiten Rüstungsausgaben sind 2019 um rund 40 Milliarden gestiegen. Die Welt gibt inzwischen die wahnsinnige Summe von fast 2.000 Milliarden Dollar für Rüstung aus und ganze 170 Milliarden für die Beseitigung von Hunger, Armut, Not und Krisenbewältigung. Das Verhältnis ist nicht einmal 1 zu 10. Wenn wir dieses grobe Missverhältnis ändern, könnte man Millionen das Leben retten und dadurch gleichzeitig Kriege verhindern.“
Die Krisengewinner und die versäumte Steuer:
„Wir sollten die Krisengewinner viel stärker an der Krisenbewältigung beteiligen. Corona hat auch zu einem Amazon-Fieber geführt. Jeff Bezos ist in drei Monaten um 25 Milliarden Dollar reicher geworden, während der deutsche Einzelhandel ums Überleben kämpft. Deswegen brauchen wir eine Digitalsteuer für Konzerne wie Facebook oder Apple. Das Gleiche gilt für Finanzspekulanten. Die machen mit der Krise Milliardengewinne, tragen aber keinen Cent zur Lösung bei. Eine Finanztransaktionssteuer von 0,01 Prozent auf hochspekulative Derivate erbringt allein in Europa 60 Milliarden. Kein normaler Steuerzahler wäre betroffen. Die Vorschläge sind ausgearbeitet. Wieso machen wir es nicht? … Wenn heute zehn Prozent der Menschheit 90 Prozent des Vermögens besitzen und wenn zehn Menschen auf der Welt so viel besitzen wie 50 Prozent der Armen, das sind dreieinhalb Milliarden Menschen, dann läuft doch was schief.“
(Quelle: Stern Nr. 24 vom 4.6.2020, S. 81-83)