Das Lied der Erde singen – in einer Welt der Gewalt

Vor 20 Jahren, am Dienstag, 29. April 2003, hatte ich Dorothee Sölle zu einer Konzertlesung mit Grupo Sal eingeladen. Dazu kam es leider nicht mehr. Am Sonntag, 27. April 2003 ist sie während einer Tagung in der Evangelischen Akademie Bad Boll plötzlich gestorben.



Zur Erinnerung an Dorothee Sölle ein Ausschnitt aus dem Vortrag, den sie bei der 6. Vollversammlung des Ökumenischen Rates der Kirchen in Vancouver im Jahre 1983 hielt:

„Christus ist gekommen, damit alle ‚Leben in Fülle haben‘, aber die absolute Verarmung, die innerhalb einer technologisch entwickelten Welt ein Verbrechen ist, zerstört Menschen physisch, geistig, psychisch und auch religiös, weil sie die Hoffnung vergiftet und den Glauben zu einer Fratze, zu einer ohnmächtigen Apathie macht. Zwischen Christus, der die Fülle des Lebens für alle bedeutet, und den Verarmten schiebt sich die Ausbeutung als die Sünde der Reichen, die versuchen, das Versprechen Christi zu zerstören. Christus sagt im Johannesevangelium im Zusammenhang mit der ‚Fülle des Lebens‘: ‚Ich bin die Tür. Wer durch mich hineingeht, wird gerettet werden, und er wird ein- und ausgehen und Weide finden. Der Dieb kommt nur, um zu stehlen und zu töten und zu verderben. Ich bin gekommen, damit sie Leben haben und es in Fülle haben‘ (Joh 10,9-10).

Christus und ‚der Dieb‘ stehen einander gegenüber. Der Dieb kommt, um die Armen auszuplündern, dass sie sterben. Christus ist um der Fülle des Lebens willen gekommen. Aber es wäre eine Art kindisches Christentum, wenn wir einfach abwarten, ob der Dieb oder Christus zu uns kommt. Wir sind beteiligt an diesen beiden Projekten der Ausplünderung oder der Fülle von Leben. Wir partizipieren entweder an der Sendung Christi oder an dem, was der Dieb mit der Welt vorhat. Solange wir nur Opfer oder nur Zuschauer in diesem Kampf um Gerechtigkeit sind, unterstützen wir den Dieb und seine Verbrechen. Im Kampf für eine gerechtere Welt dagegen nehmen wir teil am Schöpfungsplan Gottes, der uns die Erde anvertraut hat, so dass sie Leben in Fülle für alle gebe.“

Dorothee Sölle (* 30. September 1929, † 27. April 2003) ist beigesetzt auf dem Friedhof Nienstedten in Hamburg. Die Grabinschrift ist ein Psalmwort:

„In Deinem Licht sehen wir das Licht“ (Ps 36,10).