Die Freude des lebendigen Gottes und das Elend des Atheismus
von Jürgen Moltmann
Ich denke: Das Christentum ist eine Religion der Freude Gottes. Jedenfalls macht der christliche Auferstehungsglaube das Leben zu einem Fest, zu „einem Fest ohne Ende“, wie der Kirchenvater Athanasius an einem Ostertag in Alexandria sagte. Wir wollen die positiven Dimensionen der „großen Freude“ in den weiten Räumen Gottes ermessen, der uns näher ist, als wir denken, und unser Leben weiter macht, als wir ahnen. Freude ist Kraft zum Leben, Schwung zur Liebe und Lust am schöpferischen Anfang. Wir sind zur Freude geschaffen.
Wir blicken zunächst in die Psalmen des Alten Testamentes: Die Zuwendung Gottes und seine Gegenwart rufen nicht Angst, sondern Freude hervor:
„Du tust mir kund den Weg des Lebens. Vor dir ist Freude die Fülle und Wonne zu deiner Rechten ewiglich.“ (Ps 16,11)
Diese lebendig machende Gegenwart Gottes wird oft mit dem „leuchtenden Angesicht“ Gottes beschrieben. Wann leuchtet ein Angesicht? Wenn einer etwas schenken will oder eine Mutter auf ihr neugeborenes Kind blickt, dann leuchtet ihr Gesicht. Vom leuchtenden Angesicht Gottes geht der Segen aus, der das menschliche Leben zu einem erfüllten Leben macht und zu einem festlichen Leben erhöht.
Freude ist erstaunlicherweise auch mit dem Gericht Gottes verbunden: Wenn Gott kommt, um die Erde zu richten, wird Freude die Natur zum Blühen bringen.
„Das Meer brause und was darinnen ist, das Feld sei fröhlich und alles, was darauf ist. Es sollen jauchzen die Bäume im Wald vor dem Herrn, denn er kommt, zu richten die Erde.“ (Ps 96,11-13)
Wenn Gott kommt, zu richten die Erde, ist es wie ein Sonnenaufgang. Er wird das Gebeugte aufrichten, das Welke ergrünen lassen, das Kranke heilen, das Abgestorbene lebendig und das Müde jung machen.
Wenn Gott zu den Menschen kommt, geschieht eine zweifache Wende: in Gott und in den Menschen. Gott wendet sich von seinem „verborgenen Angesicht“ (hester panim) zu seinem „leuchtenden Angesicht“. Diese Wende in Gott von seiner Abneigung gegen das Unrecht der Menschen zu Zuneigung seiner Gnade mit ihnen ruft in den betroffenen Menschen eine entsprechende Wende hervor:
„Du hast meine Klage verwandelt in einen Reigen. Du hast mir meinen Sack der Trauer ausgezogen und mich mit Freude gegürtet.“ (Ps 30,12)
Und wenn die Erlösten des Herrn wiederkommen, wird „ewige Freude über ihrem Haupte sein“:
„Freude und Wonne werden sie ergreifen und Schmerz und Seufzen werden entfliehen.“ (Jes 35,10)
Gott selbst wird mit den Erlösten mit „Jauchzen fröhlich sein“.
„Er wird sich über dich freuen und dir freundlich sein. Er wird dir vergeben in seiner Liebe und wird über dich mit Jauchzen fröhlich sein.“ (Zeph 3,17)
Ist das nicht ein wunderbares Bild: der sich über seine erlösten Geschöpfe freuende, der jauchzende und fröhliche Gott?
Wir sehen aus dieser Zusammenstellung aus den Psalmen und Propheten des Alten Testaments einen großen, wunderbaren Einklang der Freude: Gottes Freude – die Freude der Erde – die Freude der Erlösten.
„Die Freude Gottes“ hatte Helmut Gollwitzer 1940 seine Auslegung von Lukas 15 überschrieben. Freude ist ursprünglicher als Glaube, denn was er beschenkte Mensch sich freut? Im Griechischen liegen charis, die Gnade, und chara, die Freude, sprachlich eng beieinander. Paulus kann Glaube und Freude auch austauschen, wenn er schreibt:
„Nicht dass wir Herren waren eures Glaubens, sondern wir sind Gehilfen eurer Freude.“ (2Kor 1,24)
Lukas interpretiert Jesu erstaunliches und von den Pharisäern öffentlich gerügtes Verhalten gegenüber „Sündern und Zöllnern“: „Dieser nimmt die Sünder und isst mit ihnen“ (Lk 15,2) mit drei Gleichnissen: vom verlorenen und gefundenen Schaf, vom verlorenen und gefundenen Groschen und vom verlorenen und gefundenen Sohn (Lk 15,1-32).
„So wird Freude im Himmel sein über einen Sünder, der Buße tut, mehr als über neunundneunzig Gerechte, die der Buße nicht bedürfen.“ (Lk 15,7.10)
Diese Theologie stimmt nicht ganz: Die „Freude im Himmel“ ist ganz richtig, aber Jesus hat nicht nur bußfertige Sünder angenommen und mit ihnen gegessen. Außerdem konnte das verlorene Schaf nicht viel zur Auffindung beitragen und der verlorene Groschen erst recht nicht. Die „Freude im Himmel“ liegt zuerst bei dem suchenden und findenden Gott:
„Und wenn er es gefunden hat, so legt er es auf die Schultern voller Freude.“ (Lk 15,5)
Allein der „verlorene Sohn“ tut Buße, das heißt, er kehrt um aus seinem Elend in der Fremde zu seines Vaters Haus und will zu seinem Vater sagen:
„Vater, ich habe gesündigt gegen den Himmel und vor dir.“ (Lk 15,21)
Aber bevor es zu diesem Sündenbekenntnis kommt, kommt ihm der Vater zuvor:
„Als er noch weit entfernt war, sah ihn sein Vater, und es jammerte ihn. Er lief fiel ihm um den Hals und küsste ihn.“
Erst daraufhin bekennt der gefundene Sohn seine Verlorenheit, doch den Vater kümmert das nicht; er freut sich:
„Mein Sohn war tot und ist wieder lebendig geworden. Er war verloren und ist gefunden worden. Und sie fingen an, fröhlich zu sein.“ (Lk 15,24)
Der die Verlorenen suchende und findende Gott freut sich, und die Gefundenen freuen sich mit Gott. Das Ereignis des Findens eines Verlorenen ist wie das Lebendigmachen eines Toten. Sich daran zu freuen, ist das Einstimmen in die Freude Gottes. Es ist das Begrüßen des Lebens, wo das Verderben herrschte.
Verglichen mit der Lebensfülle in dem lebendigen Gott bietet der moderne Atheismus ein reduziertes Leben. So sagte der Philosoph Jürgen Habermas mit Max Weber, er sei „religiös unmusikalisch“. Man kann ohne Musik leben, aber es ist armes Leben. Man kann auch ohne Religion leben, aber es ist ein reduziertes Leben. Die moderne Welt orientiert ihre Bewohner an humanistischen, meistens aber an naturalistischen oder kapitalistischen Lebensbegriffen. Ein Leben, das den lebendigen Gott aufgegeben hat, ist ein Leben sozusagen ohne Oberlicht, ohne Transzendenz: Ein Leben, das die Transzendenz verloren hat, wird zu einem Leben ohne Selbsttranszendenz. Das Selbstverhältnis verkümmert und das Gewissen lässt sich beugen. Doch gibt es sehr verschiedene Begründungen des Atheismus.
Ich habe den humanistischen Atheismus in der eigenen Familie erlebt. Mein Großvater Johannes Moltmann war Großmeister einer Hamburger Freimaurerloge, musste aber wegen seiner Religionskritik die Loge verlassen. Er folgte den Humanitätsidealen Lessings und der Religionskritik Feuerbachs. Er wollte den Menschen groß machen und sehnte sich doch nach einem „zukünftigen Gott“, wie seine letzte Schrift heißt.
Ich habe den Atheismus der Nazi-Diktatur am eigenen Leibe erlebt. Das war der atheistische Rassenwahn und der Aberglaube: „Führer befiehl, wir folgen dir“ – ein politischer Götzendienst und der Götze hieß Hitler.
Ich habe in der ostdeutschen DDR auch den stalinistischen Atheismus kennengelernt: „Ohne Gott und Sonnenschein bringen wir die Ernte ein.“
Im 19. Jahrhundert gab es den theologischen Protestatheismus. Man protestierte gegen Gott wegen der Leiden der Unschuldigen in der Welt. Man protestierte gegen Gott und Staat, weil Thron und Altar ein ungerechtes Bündnis gegen das Volk eingegangen waren. „Weder Gott noch Staat“ proklamierte der Anarchist Michael Bakunin im Russland der Zaren. „Ich mag diese Atheisten nicht“, sagte der katholische Dichter Heinrich Böll, „sie reden immer von Gott.“
Heute gibt es den Protestatheismus in Europa nur noch selten. Der Banalitätsatheismus ist weit verbreitet: Man hat das Gottvertrauen verloren und spürt den Verlust kaum noch. Man ist ein economic animal geworden und hat sich das Leben zur „Ware“ machen lassen. Der „postsäkulare Mensch“ ist jenseits von Theismus und Atheismus, von Glaube und Aberglaube.
Wenn der Atheismus siegt und der Theismus verschwindet, was wird dann aus dem Atheismus? Er verschwindet auch, denn mit dem Theismus schafft sich auch der Atheismus selbst ab. Es bietet nichts Positives!
Jürgen Moltmann (* 8. April 1926) wurde 95 Jahre alt.
(Text in: Jürgen Moltmann, Christliche Erneuerungen in schwierigen Zeiten, München 2019, S. 54-56.)