Ehrfurcht statt Schlammschlacht

Aus der Süddeutschen Zeitung vom 15. Februar 2021 (von Sebastian Herrmann):

Eine Studie zeigt: Das Gefühl der Ehrfurcht kann verbohrte Menschen einen und ideologische Gräben überwinden.

Es war der 24. Dezember 1968, als William Anders „Oh mein Gott“ durch die Apollo-8-Kapsel rief und nach seiner Hasselblad 500 griff. „Seht euch dieses Bild an. Da geht die Erde auf.“ Der US-Astronaut legte einen Farbfilm ein und schuf ein Bild, das als eines der einflussreichsten der Geschichte und manchen als ein Geburtsmoment der Umweltbewegung gilt. Anders fotografierte, wie der Planet der Menschen über dem öden Horizont des Mondes aufging, den er in seinem Raumschiff umkreiste. Eine ferne, blaue Halbkugel, verloren und verletzlich im kalten, schwarzen Nichts des Kosmos.

Auch mehr als 50 Jahre später weckt das Foto mit der Seriennummer AS8-14-2383HR ein warm glimmendes Gefühl tiefer Ergriffenheit und lässt das individuelle Menschsein zu einer unbedeutenden Kleinigkeit schrumpfen. Wer Ehrfurcht empfindet, wird aus seinem Bezugsrahmen geworfen, empfindet Demut im Angesicht von etwas unbegreiflich Großem. „Man blickt neu auf die Welt“, wie die Psychologen Daniel Stancato und Dacher Keltner in einer Studie im Fachblatt Emotion schreiben. Darin demonstrieren die Forscher, dass das Gefühl der Ehrfurcht dazu verleitet, Gewissheiten aufzuweichen, Gemeinschaft zu stiften und in politischen Gegnern den Menschen zu sehen.

„Ehrfurcht zu empfinden“, sagen die Psychologen von der University of California in Berkeley, „öffnet das Denken, statt es zu verschließen.“ Diese Form des erschütterten Staunens, so haben zahlreiche Untersuchungen gezeigt, beeinflusst menschliche Kognition: Sie weckt Demut, mindert die Bedeutung des Selbst und verknüpft einen mit anderen Menschen. Es verbindet, gemeinsam vor einer Kathedrale oder einem Bergmassiv zu stehen und sich unbedeutend zu fühlen. Selbst wenn über wesentliche, identitätsstiftende Themen ansonsten aggressive Uneinigkeit herrscht: In einem Dom schreit sich niemand an.

Gemeinsame Ergriffenheit nimmt dem Zorn den Raum. Dafür haben Stancato und Keltner Belege in Experimenten mit mehreren Hundert Teilnehmern gesammelt. … Die Ergebnisse werfen ein Schlaglicht darauf, dass es uns derzeit an Momenten kollektiver Ehrfurcht mangelt. Stattdessen lassen einen die aktuellen Schlammschlachten vor Abscheu staunen: Rechte wie Linke vergiften die Debatte und bezichtigen einander voll Bigotterie, die Debatte zu vergiften. Unbarmherzig dreschen sie im Namen ihrer Version des Guten aufeinander ein. Was könnte dagegen gemeinsame Ehrfurcht wecken? Die Errungenschaften der Gegenwart böten zwar Anlass dafür, die unfassbar schnelle, kollektive Entwicklung der Corona-Impfstoffe zum Beispiel. Doch sie liefern keine wirksamen Bilder. Das Foto einer Spritze weckt andere Gefühle als eines der über dem Mond aufgehenden Erde.

„Ehrfurcht vor dem Leben“ – Diesen Begriff hat Albert Schweitzer während seiner Zeit in Afrika geprägt: 1915 war er auf einer längeren Fahrt auf dem Fluss Ogowe in Gabun unterwegs. Er wurde zu einer kranken Missionarsfrau gerufen und fuhr auf dem Dampfer 200 Kilometer stromaufwärts. Es wurde für ihn eine historische Fahrt. Er schrieb darüber:

Langsam krochen wir den Strom hinauf, uns mühsam zwischen den Sandbänken – es war trockene Jahreszeit – hindurchtastend. Geistesabwesend sass ich auf dem Deck des Schleppkahns, um den elementaren und universellen Begriff des Ethischen ringend, den ich in keiner Philosophie gefunden hatte. Blatt um Blatt beschrieb ich mit unzusammenhängenden Sätzen, nur um auf das Problem konzentriert zu bleiben.

Am Abend des dritten Tages, als wir bei Sonnenuntergang gerade durch eine Herde Nilpferde hindurchfuhren, stand urplötzlich, von mir nicht geahnt und nicht gesucht, das Wort ‚Ehrfurcht vor dem Leben‘ vor mir: Ich bin Leben, das leben will, inmitten von Leben, das leben will.

Die elementare, uns in jedem Augenblick unseres Daseins zum Bewusstsein kommende Tatsache ist: Ich bin Leben, das leben will, inmitten von Leben, das leben will. Das Geheimnisvolle meines Willens zum Leben ist, dass ich mich genötigt fühle, mich gegen allen Willen zum Leben, der neben dem meinen im Dasein ist, teilnahmsvoll zu verhalten. Das Wesen des Guten ist: Leben erhalten, Leben fördern, Leben auf seinen höchsten Wert bringen. Das Wesen des Bösen ist: Leben vernichten, Leben schädigen, Leben in, seiner Entwicklung hemmen.

Das Grundprinzip der Ethik ist also Ehrfurcht vor dem Leben. Alles, was ich einem Lebewesen Gutes erweise, ist im letzten Grunde Hilfe, die ich ihm zur Erhaltung und Förderung seines Daseins zuteil werden lasse.

(Albert Schweitzer, in: ders., Die Ehrfurcht vor dem Leben, München 1966)