Man kann nur verstehen, was man liebt.

„Ein inniger Zusammenhang von Verstehen und Liebe legt sich schon aus der biblischen Sprache nahe. Im Hebräischen umfasst das eine Verbum jdh beides: liebendes Umgehen (sogar im Sinne der sexuellen Vereinigung) und intellektuelles Erkennen.

Man stelle sich eine gemischte Reisegruppe vor, die eine Wanderung von Jerusalem durch das Wadi Kilt hinab nach Jericho unternimmt. Jeder der Wandernden wird unterschiedliche Wahrnehmungen machen: Ein frommer Pilger mag an die Geschichte vom barmherzigen Samariter denken und sich in die Zeit des Neuen Testaments zurückversetzt fühlen; einem Biologen wird die Vielfalt der Flora und Fauna auffallen; ein Archäologe wird besonders auf die Reste älterer Besiedlungen achten und die Ausgrabungen mit hellem Blick beobachten; ein Soldat wird das zerklüftete, schwer zugängliche Gelände anders sehen als ein Geologe, dessen Aufmerksamkeit auf die Sediment- und Verwerfungsschichten fällt; ein Tourist wird unter der Hitze leiden und vor allem den schlechten Service unterwegs im Gedächtnis behalten.

Wie in diesem kleinen Beispiel ist es grundsätzlich um das Verstehen bestellt: Ohne Interesse kommt es nicht zur präzisen Wahrnehmung; nur durch gesteigerte Anteilnahme rücken unbewusste oder allenfalls nebenthematische Sinnesempfindungen in das Licht bewusster Wahrnehmung. Ohne solches Interesse bliebe schon die Grundschicht des Verstehens blind. … Liebe begründet nicht nur die hingabevolle, wache Beschäftigung mit dem Gegenstand, sie verhindert auch eine ‚faule Vernunft‘, indem sie zu immer tieferer und genauerer Erfassung des Geliebten antreibt.“

Manfred Oeming, „Man kann nur verstehen, was man liebt“. Erwägungen zum Verhältnis von Glauben und Verstehen als einem Problem alttestamentlicher Hermeneutik, in: Manfred Oeming, Axel Graupner (Hg.), Altes Testament und christliche Verkündigung, FS Antonius H.J. Gunneweg, Stuttgart 1987, S. 165-183. 170f.