Verloren – und nicht gefunden?

Ein Wort aus dem 2. Korintherbrief irritiert: Das Evangelium ist denen verhüllt, die verloren gehen. Was ist mit den „Verlorenen“?

1.
Der Abschnitt aus 2 Kor 4,2-4 (Luther-Übersetzung):

2 Wir haben uns losgesagt von schändlicher Heimlichkeit und gehen nicht mit List um, verfälschen auch nicht Gottes Wort, sondern durch Offenbarung der Wahrheit empfehlen wir uns dem Gewissen aller Menschen vor Gott.
3 Ist aber unser Evangelium verdeckt, so ist’s denen verdeckt, die verloren werden, 4 den Ungläubigen, denen der Gott dieser Welt den Sinn verblendet hat, dass sie nicht sehen das helle Licht des Evangeliums von der Herrlichkeit Christi, welcher ist das Ebenbild Gottes.

Übersetzung der BasisBibel:

3 Die Gute Nachricht, die wir verkünden, kann jemanden wie von einem Schleier verhüllt vorkommen. Sie ist aber nur für die Menschen verhüllt, die verloren gehen. 4 Der „Gott“ dieser Welt hat die Sinne der Ungläubigen mit Blindheit geschlagen. So können sie das Licht nicht sehen, das die Gute Nachricht bringt. Dieses Licht ist die Herrlichkeit von Christus, der das Ebenbild Gottes ist.

2.
Der Zusammenhang:

Paulus muss sich in der Gemeinde in Korinth rechtfertigen. Seine Gegner machen ihm das Leben schwer. Sie haben Empfehlungsbriefe. Paulus hat keinen. Er sagt, dass ihn im Grunde die Gemeinde selbst legitimiert durch ihre Existenz. Er verkündigt nicht sich selbst, sondern Jesus Christus als den Herrn (4,5), und hat in seiner Verkündigung „den Glanz des Evangeliums von Herrlichkeit Christi“ (4,4) aufleuchten lassen. Allerdings ist dieses Evangelium manchen Leuten in Korinth verhüllt, weil „der Gott dieser Welt“ ihren Sinn verblendet hat (4,3).

3.
Was ist die Ursache für diese „Verblendung“?

Nach neutestamentlicher Vorstellung stehen alle Menschen unter irgendeiner Art von Macht: Entweder unter der Macht „der Sünde und des Todes“ oder unter der Macht „des Geistes, der lebendig macht in Christus Jesus“ (Röm 8,2). Nach Paulus ist der  Mensch „Sklave der Sünde, die zum Tod führt“ (Röm 6,17). Jesus ist in diesen Machtbereich der Sünde gekommen. Durch die Begegnung und die Gemeinschaft mit ihm können Christen frei werden und Frieden mit Gott finden (Röm 5). Dies ist ein Herrschaftswechsel: vom Sklaven der Sünde wird man zum Kind Gottes. Nach 2Kor 4,4 sind die Menschen durch den „Gott dieser Welt“ verblendet. Der „Glanz des Evangeliums“ ist ihnen verborgen. „Verloren“ ist jemand, der das befreiende und Leben bringende Evangelium von Jesus Christus nicht erkannt hat.

4.
Hoffnung für die Verlorenen?

  • Im 2. Korintherbrief zeigt Paulus, dass „das Evangelium von der Herrlichkeit Christi, welcher ist das Ebenbild Gottes … Erkenntnis der Herrlichkeit Gottes“ bringen und die Herzen erleuchten kann. Dies ist wie ein Wechsel von Finsternis zum Licht (2Kor 4,4.6). Die Liebe Christi, der für die Menschen gestorben ist und auferweckt wurde, ermöglicht Versöhnung und eine neue Existenz (2Kor 5,14-21). Das war auch die persönliche Erfahrung des Paulus (Apg 9,3-5).
  • Auch im Johannesevangelium ist häufig vom Gegensatz Finsternis – Licht die Rede. Zum Beispiel, wenn Jesus sagt: „Ich bin das Licht der Welt. Wer mir nachfolgt, der wird nicht leben in der Finsternis, sondern wird das Licht des Lebens haben“ (Joh 8,12). Oder wenn er sagt: „Ich bin als Licht in die Welt gekommen, auf dass, wer an mich glaubt, nicht in der Finsternis bleibe“ (Joh 12,46). Oder: „Das Licht scheint in der Finsternis, und die Finsternis hat’s nicht ergriffen“ (Joh 1,5). Oder wenn er sagt: „Gott hat die Welt so sehr geliebt, dass er seinen einzigen Sohn hingab, damit jeder, der an ihn glaubt, nicht verloren geht, sondern ewiges Leben hat“ (Joh 3,16).
  • In der Sprache der Bekehrungsterminologie wird ein Wechsel vom Dunkel zum Licht, vom Tod zum Leben oder vom Verlorenen zum Gefundenen oft bei Lukas erwähnt. So sagt Jesus zu Zachäus: „Heute ist diesem Haus Heil geschenkt worden, weil auch dieser Mann ein Sohn Abrahams ist. Denn der Menschensohn ist gekommen, um zu suchen und zu retten, was verloren ist.“ (Lk 19,9f.). Jesus sagt im Gleichnis vom Verlorenen Sohn: „Denn dieser mein Sohn war tot und ist wieder lebendig geworden; er war verloren und ist gefunden worden“ (Lk 15,24.32). Das Finden des Verlorenen ist auch Thema in den Gleichnissen vom Verlorenen Schaf (Lk 15,4-7) und vom Verlorenen Groschen (Lk 15,8-10).
  • So auch in Eph 2,1-7: 1Ihr wart tot infolge eurer Verfehlungen und Sünden. 2 Ihr wart einst darin gefangen, wie es der Art dieser Welt entspricht, unter der Herrschaft jenes Geistes, der im Bereich der Lüfte regiert und jetzt noch in den Ungehorsamen wirksam ist. 3 Unter ihnen haben auch wir alle einmal unser Leben geführt, als wir noch von den Begierden unseres Fleisches beherrscht wurden. Wir folgten dem, was das Fleisch und der böse Sinn uns eingaben, und waren von Natur aus Kinder des Zorns wie auch die anderen. 4­‑5 Gott aber, der reich ist an Erbarmen, hat uns, die wir infolge unserer Sünden tot waren, in seiner großen Liebe, mit der er uns geliebt hat, zusammen mit Christus lebendig gemacht. Aus Gnade seid ihr gerettet. 6 Er hat uns mit Christus Jesus auferweckt und uns zusammen mit ihm einen Platz in den himmlischen Bereichen gegeben, 7 um in den kommenden Zeiten den überfließenden Reichtum seiner Gnade zu zeigen, in Güte an uns durch Christus Jesus.“
  • Und auch in Kol 2,13: „Ihr wart tot infolge eurer Sünden und euer Fleisch war unbeschnitten; Gott aber hat euch mit Christus zusammen lebendig gemacht und uns alle Sünden vergeben.“
  • Oder noch ein Beispiel aus den Pastoralbriefen: Gott „will, dass alle Menschen gerettet werden und zur Erkenntnis der Wahrheit gelangen“ (1Tim 2,4).

5.
Ergebnis:

Paulus stellt in 2Kor 4,3f. kein Urteil über die aus, die „den Glanz des Evangeliums von der Herrlichkeit Christi“ nicht erkannt haben. Er beschreibt den aktuellen Zustand: Ja, es gibt Leute, denen das Evangelium „verhüllt“ ist. Deswegen ist Paulus ja unermüdlich unterwegs. Deswegen ist sein Auftrag das Hauptthema des 2. Korintherbriefs: „Daher erlahmt unser Eifer nicht in dem Dienst, der uns durch Gottes Erbarmen übertragen wurde“ (4,1). Er versteht seinen Dienst als „Gesandter an Christi Stelle und Gott ist es, der durch uns mahnt.“ Deshalb ist seine Botschaft: „Wir bitten an Christi Stelle: Lasst euch mit Gott versöhnen!“ (2Kor 5,20).

[Foto 1: Paulus, in: Palos-Bibliothek Budapest]
[Foto 2: by_daniel stricker_pixelio.de]