„JETZT ist die ZEIT“ – Diesem Kirchentagsmotto sieht man es nicht an, dass es angeblich in der Bibel steht, – wenn da nicht eine Bibelstelle dabei stehen würde: nämlich Mk 1,15. In Mk 1,15 lesen wir:
Jesus sagt: „Die Zeit ist erfüllt, und das Reich Gottes ist nahe herbeigekommen. Tut Buße und glaubt an das Evangelium!“
„JETZT ist die ZEIT“ – Dieses Kirchentagsmotto ist also ein verstümmeltes Jesuswort. Kein Wort mehr vom „Reich Gottes“, also von der „Königsherrschaft Gottes“, die nahe herbeigekommen ist. Kein Wort von Umkehr und vom Evangelium.
„JETZT ist die ZEIT“ – Aufschlussreich ist ein Interview von Thomas de Maizière, dem Präsidenten des 38. Deutschen Evangelischen Kirchentages in Nürnberg 2023, mit epd (vom 05.04.2023):
epd: Das Kirchentagsmotto lautet „Jetzt ist die Zeit“. Wofür?
Thomas de Maizière: Wir erleben einen Krisenstapel, eine Zeitenwende, einen Epochenbruch, erschütterte Gewissheiten – wie immer man das formulieren mag. Da ist diese Losung „Jetzt ist die Zeit“ genau richtig. Sie zwingt uns, darüber klar zu werden, was das Besondere an diesen Zeiten ist. Beim Kirchentag wollen wir versuchen, eine Zeitendeutung zu machen.
epd: Gefällt Ihnen der Begriff „Zeitenwende“?
de Maizière: Der Begriff Zeit hat im Griechischen zwei Bedeutungen: „chronos“, die Zeit, die einfach abläuft, eine rein quantitative Größe. Und „kairos“ – den bestimmten Zeitpunkt, die Gelegenheit, den Moment, auf den es ankommt. Und solch ein Zeitpunkt ist jetzt. Das verstehe ich unter „Zeitenwende“.
epd: Was definiert diesen Kairos?
de Maizière: Es sind die erschütterten Gewissheiten. Wir hielten dies für gewiss: In Europa gibt es keinen Krieg mehr, wir leben in einer Überflussgesellschaft, Wachstum ist ewig und wenn etwas funktioniert, dann der deutsche Staat. All das ist erschüttert. Es gibt einen Angriffskrieg von Russland auf die Ukraine. Wir haben plötzlich keinen Hustensaft mehr und Holz wird knapp. Wir freuen uns über 0,1 Prozent Wachstum, was faktisch keines ist. Und wir wissen, dass bei der Staatsorganisation einiges im Argen liegt. All das zusammen macht einen besonderen Moment aus.
„JETZT ist die ZEIT“ – Was dieses Kirchentagsmotto mit dem Jesuswort Mk 1,15 zu tun hat, ist den Aussagen des Kirchentagspräsidenten nicht zu entnehmen.
„JETZT ist die ZEIT“?? Als einem, der gerne Kirchentage besucht hat, kommen mir da einige Fragen:
- Wäre es nicht ehrlicher gewesen, die Angabe der Bibelstelle wegzulassen? Denn erst mit dem Hinweis auf Mk 1,15 wird so richtig deutlich, dass hier ein einladendes und forderndes Jesuswort bis zur Unkenntlichkeit verstümmelt worden ist. Soll also mit der Bibelstelle Mk 1,15 einer Allerweltsweisheit („JETZT ist die ZEIT“), die zu allen Zeiten und an allen Orten der Welt gilt, ein biblischer Touch gegeben werden?
- Traut sich der Kirchentag nicht mehr, im Kirchentagsmotto von Jesus oder von Gott zu sprechen? So war es nicht nur beim Kirchentagsmotto 2017 „Du siehst mich“, das sich angeblich auf Gen 16,13 beziehen sollte: „Du bist ein Gott, der mich sieht.“ Als Jahreslosung 2023 war es möglich, den ganzen Satz aufzunehmen: „Du bist ein Gott, der mich sieht.“ Geht doch.
- Das Kirchentagsmotto brauchte noch einen Zusatz „Hoffen. Machen.“ Also: Ärmel hochkrempeln und hoffen? Mit dieser Ergänzung entfernt sich das Kirchentagsmotto noch weiter von der angegebenen angeblichen Bezugsstelle Mk 1,15, denn „Buße tun“ und „an das Evangelium glauben“ hat wenig mit „machen“ zu tun.
- Hat das Kirchentagsmotto das Ziel, möglichst unverbindlich und allgemein zu bleiben, niemandem auf die Füße zu treten – und dafür die Radikalität Jesu abzuschwächen und letztlich zu verraten?
- „JETZT ist die ZEIT“ – Das könnte auch ein Motto sein für die Jahreshauptversammlung des Gartenbauvereins, des Humanistischen Bundes oder des Aufsichtsrates der Volkswagen AG. Es ist ein Wort, dem alle Menschen der Welt zustimmen können. Ist das womöglich der „kleinste gemeinsame Nenner“ in unserer Kirche? Findet Jesus mit seinem Wort in Mk 1,15 womöglich nicht so viele Freunde in der Kirche?
„JETZT ist die ZEIT“?? – Ein verstümmeltes Jesuswort. Eins ist klar:
Profil ist das nicht.