Walter Hümmer in einem Vortrag vor 52 Jahren:
Die Gesamtchristenheit steht in einer Stunde besonderer geschichtlicher Bewährung und Anfechtung. Eine Welle des Diesseitigkeitsdenkens, der Verweltlichung geht über die Welt. Fast scheint es, als ob das religiöse Empfinden des Menschen im Schrumpfen wäre. Viele scheinen keine Antenne mehr für die Welt Gottes zu haben. Ein lautloser innerer Massenabfall, ein Fall aus der Welt des Glaubens, ist im Gange. Die christliche Gemeinde wird je länger je mehr wieder Diasporacharakter inmitten der Welt bekommen, ob sie will oder nicht.
In allzu ferner Zukunft wird es nicht mehr um katholisch oder evangelisch gehen, sondern um das Christsein überhaupt. Das Christsein wird mit dem Makel des Rückständigen, Unzeitgemäßen, Unaufgeklärten behaftet werden. Die wirklichen Christen werden „immer seltenere Vögel“ werden. Wir haben uns nicht mehr untereinander zu streiten, sondern eine gemeinsame Front gegen den Unglauben und die Gottesverleugnung aufzurichten, ein Schutz- und Trutzbündnis gegen die Gleichgültigkeit, einen gemeinsamen Feldzug der Liebe gegenüber den Nöten der Zeit und für den Menschen unsrer Tage. Vielleicht will Gott auch der einen immer weltlicher werdenden Welt die eine immer geistlicher werdende Kirche gegenüberstellen, dem mündig gewordenen – sprich: sehr selbstherrlich gewordenen Menschen – den geistlich sehr klar und entschlossen gewordenen Christenmenschen. …
Was soll da noch der konfessionelle Kleinkrieg, das Drinnenbleiben in einem jahrhundertealten konfessionellen Schützengrabensystem, über das bereits allgemein die Flutwelle der völligen Verweltlichung hinweggeht? …
Ich meine, wir müssten die konfessionelle Zukunft besser bewältigen als die konfessionelle Vergangenheit. Der gemeinsame Weg der christlichen Kirchen miteinander und zueinander wird sehr beschwerlich sein, und wir werden uns immer wieder schockieren und ein Verwundern abnötigen, uns auch wohl da und dort tief verwunden. Aber wir kommen weiter, wenn wir uns alle einer ökumenischen Bescheidenheit befleißigen und zu einer „demütigen Konfessionalität“ zurückkehren. Wir verstehen uns rasch, wenn wir zur Bescheidenheit des alten Luther zurückkehren, dessen letzte Worte gewesen sein sollen: „Wir sind Bettler, das ist wahr“. Empfangende, täglich vom Empfang der Gnade Lebende sind wir. Wir kommen bei allem konfessionellen Reichtum doch täglich mit leeren Händen zu ihm. Gott liebt leere Hände! …
Doch geht der Weg zur Ökumenischen Gemeinsamkeit nur durch die Konfessionen hindurch. In unserem konfessionellen Erbe sollen wir ökumenisch sein. Von einem ökumenischen christlichen „Eintopf“ kann keine Rede sein. Unter Umgehung unseres konfessionellen Erbes gelangen wir … nur zu einem ökumenischen Babel. Es gilt die Treue zur Tradition und Gestaltung der Jesusnachfolge zu verbinden. …
Jede Kirche steht im Augenblick unter dem Auftrag, sich durch den Heiligen Geist auf Christus und sein Wort hin reformieren zu lassen. …
Es ist keinerlei salopper Tänzersprung über die Konfessionen hinweg nötig, noch weniger ein schwärmerischer Galopp zur Einheit hin, sondern die Ausrichtung eines jeden einzelnen Christen personal auf Christus selbst. Dann werden wir zunächst die innere Einheit und später vielleicht auch ein Stück äußere Einheit als ein Geschenk des dreieinigen Gottes empfangen.
[Vortrag am 14.01.1969 (Auszüge) – in: Walter Hümmer, Neue Kirche in Sicht? Marburg 1977, 2. Aufl., S. 159-162.]