Es ist gut verständlich, dass man alle offen sichtbaren radikalen Elemente der Botschaft Jesu immer wieder in ihrer Bedeutung abgewiegelt und in ihren Konsequenzen verharmlost hat. Die Gründe dafür sind unterschiedlich: Da ist einmal eine Konsequenz, die man aus der Rechtfertigungslehre ziehen zu müssen meint. So versteht man die Bergpredigt, die – exegetisch gesehen – zweifellos radikal gedacht ist, dann nur noch als ein Programm, das dem Menschen lediglich sein Scheitern vor Augen führen soll. Oft scheint das Motto zu gelten: Bloß keine Leistung verlangen, man könnte sich ja überfordert fühlen. Ich muss gestehen, dass ich diese Konsequenz, die manche aus der reformatorischen Dogmatik ziehen, für extrem fatal halte. Wo die Lauheit theologisches Programm wird, ist die Kirche nicht zu retten.
Ehrlichkeit im Umgang mit der Radikalität Jesu würde bedeuten: Wir verzichten auf exegetische und theologische Manipulation dieser Stellen, die sie ermäßigt. Wir stellen fest, dass diese Texte gelten und dass unser Herz oft nicht heiß genug brennt. Gewiss betrachten wir diese Texte nicht als Gesetz, jedoch als Herausforderung, uns immer mehr auf Gott einzulassen. Er trägt uns dann auch. Wie beim Kinderspiel am Kiesgrubenteich: Es kommt darauf an, ob wir uns dem Floß anvertrauen, das uns trägt.
Klaus Berger, Die Radikalität Jesu, 1999