Jesus wird verharmlost, wenn er nur als sympathischer Rabbi, als wortmächtiger Prophet oder als begabter Charismatiker dargestellt wird – oder gar nur als erster Feminist, radikaler Sozialrevolutionär oder menschenfreundlicher Sozialarbeiter. Mit all dem wird sein wahrer Anspruch verdeckt. Mit all dem wird Jesus verkürzt, entstellt, zurechtgebogen, glattgeschliffen, entmachtet und unseren heimlichen Wünschen angepasst.
Das Christentum muss heute in dem Supermarkt der vielen Religionen und Weltanschauungen seine eigene Identität behaupten. Oder soll ich sagen: Es muss sie überhaupt erst wiederfinden? Auf jeden Fall muss es zeigen, was das unterscheidend Christliche ist. … Da ist ja nicht nur der religiöse Supermarkt mit seinen Angeboten und Schnäppchen. Da ist darüber hinaus die fast selbstverständlich gewordene Philosophie, die heute in unzähligen Köpfen sitzt und die man auf die Formel bringen kann: „Es gibt keine Wahrheit, sondern nur Konstruktionen persönlicher Wahrheiten.“
Wenn wir in dieser hochkomplizierten Situation nicht das unterscheidend Christliche verkünden und mit unserem Leben bezeugen, haben wir auf dem Markt der sich anbiedernden Sinnangebote keine Chance. Und wenn wir sein wollen wie die Gesellschaft, wird die Chance noch kleiner. Dann werden wir als Christen schlichtweg nicht gebraucht. Dann sind wir Salz, das nicht mehr zum Salzen taugt, das weggeworfen und von den Menschen zertreten wird (Mt 5,13).
aus: Gerhard Lohfink, Gegen die Verharmlosung Jesu, Freiburg i.Br. 2013, 2019, S. 34f.