Martin Luther, die Pest und Corona

Martin Luther schreibt 1527 unter dem Eindruck der damaligen Weltplage, der Pest, einen interessanten und erstaunlich aktuellen Beitrag: „Ob man vor dem Sterben fliehen möge“. Ihm geht es um die Frage, ob man bei einer Todesgefahr – ganz gleich welcher – einfach fliehen darf oder ob man sich ihr stellen soll. Und er fragt, wie man auf die Pest reagieren soll.

Die Chroniken mitteldeutscher Städte zeigen, dass seit dem ausgehenden 15. Jahrhundert kaum ein Jahrzehnt verging, in dem nicht mindestens ein Pestausbruch zu verzeichnen war. Allein in der Zeit von Luthers Wirken in Wittenberg wurde die Stadt fünfmal von der Pest heimgesucht: 1516, 1527, 1535, 1538 und 1539. Es gab bereits Maßnahmen, um der Seuche Einhalt zu gebieten. Menschen, die aus Risikogebieten kamen und möglicherweise erkrankt waren, sollten vom Rest der gesunden Bevölkerung für eine Zeit isoliert werden. So mussten Reisende und Händler, die 1377 nach Raguza (heute Dubrovnik in Kroatien) wollten, 30 Tage auf einer vorgelagerten Insel warten, bis sie in die Stadt durften. 1448 verlängerte Venedig diese Zeit auf 40 Tage, die „quarantena“, die der heutigen Quarantäne ihren Namen gab. Dennoch kam die Seuche immer wieder zurück. Sie breitete sich in der Regel in überschaubaren Regionen aus.

Die Pest ist eine äußerste Bedrohung des Lebens. Luther schreibt: „Was ist die Pestilenz anders als ein Feuer, das nicht Holz und Stroh, sondern Leib und Leben auffrisst?“ So ist sie auch eine Versuchung des Glaubens. Das heißt, sie stellt den Glauben auf die Probe. Durch unser Verhalten sollten wir uns auch hüten, „Gott zu versuchen“, das heißt, auf die Probe zu stellen. Zu unserer Reaktion auf diese Plagen gibt Luther sehr konkrete Hinweise:

1.
Wir sollen uns vor diesen Übeln hüten.

„Wir sollen wider alle Übel bitten und uns auch davor hüten, wie wir können.“

„Räuchere Haus, Hof und Gasse!“ Also: Sorge für saubere Luft und desinfiziere deine Umgebung.

Auch will ich, sagt Luther, „Orte und Personen meiden, da man meiner nicht bedarf, auf dass ich mich selbst nicht verwahrlose und dazu durch mich vielleicht viele andere vergiften und anstecken und ihnen so durch meine Nachlässigkeit Ursache des Todes sein möchte.“ Das heißt: Kontakte einschränken.

2.
Wir sollen medizinische Hilfe annehmen. Wer dies nicht tut, ist ein „Mörder seiner selbst“.

Etliche gibt es, die „verachten es, Arznei zu nehmen und meiden nicht Stätten und Personen“, die infiziert sind, „sondern zechen und spielen mit ihnen“. Sie „sind allzu vermessen und keck“ und versuchen Gott, weil sie das Sterben nicht verhindern und die Pest nicht aufhalten. Damit wollen sie „ihre Kühnheit beweisen“ und sagen: Wenn Gott sie behüten will, dann wird er es auch ohne Medikamente und ohne unser Bemühen tun. „Solches heißt nicht Gott trauen, sondern Gott versuchen. Denn Gott hat die Arznei geschaffen und die Vernunft gegeben, für den Leib zu sorgen und sein zu pflegen, dass er gesund sei und lebe.“

Luthers massive Schlussfolgerung: Wer die medizinische Hilfe nicht in Anspruch nimmt, die es ja gibt, „verwahrlost seinen Leib“ und soll schauen, „dass er nicht vor Gott als Mörder seiner selbst gefunden“ wird. „Denn auf die Weise möchte jemand auch Essen und Trinken, Kleider und Haus hintanstehen lassen und keck sein in seinem Glauben und sagen: wolle ihn Gott vor Hunger und Kälte behüten, werde er’s wohl ohne Speise und Kleider tun. Derselbe wäre freilich Mörder seiner selbst.“

Gegen eine fatalistische Haltung wendet sich Luther mit starken Argumenten: Denn wenn ein Haus brennt, dann dürfte ja auch niemand herauslaufen oder hinlaufen, um andere zu retten und das Feuer zu löschen, denn das Feuer versteht er ja als Strafe Gottes. Und wenn du ins Wasser fällst: Warum schwimmst du denn eigentlich ans Ufer? Müsstest du dich nicht dem Wasser überlassen, das ja eine Strafe Gottes ist? Wenn du dir ein Bein brichst oder verwundet bist: Warum lässt du dir denn von einem Arzt helfen? Du müsstest sagen: Es ist ja Gottes Strafe. Die willst du tragen, bis es von selber heilt. Frost und Winter verstehst du auch als Strafe Gottes. Also suche keine warme Stube auf, sondern „sei stark und bleib im Frost, bis es wieder warm wird“. Und ebenso sind Hunger und Durst auch eine große Plage. Warum isst du und trinkst du denn eigentlich? Warum wartest du nicht, bis Hunger und Durst von selber aufhören?

3.
Wenn „Übel“ und Plagen über unsere Welt und über unser Leben kommen, dann sollen wir beten.

„Wohlan, der Feind hat uns durch Gottes Verhängnis Gift und tödliche Krankheit herein geschickt, so will ich zu Gott bitten, dass er uns gnädig sei und wehre.“

„Wir sollen wider alle Übel bitten und uns auch davor hüten, wie wir können. … Will uns Gott drinnen haben“ in dieser Not und Plage und will er uns „würgen, so wird unser Hüten davor nichts helfen.“ Dann sollen wir sie annehmen.

Die Bitte im Vaterunser „erlöse uns vom Übel“ sollen wir ernsthaft an Gott richten.

Wenn wir vor Ort bleiben, weil wir unserem Nächsten helfen wollen, sollen wir zu Gott sagen: „Herr, in deiner Hand bin ich, du hast mich hier angebunden, dein Wille geschehe. Denn ich bin deine arme Kreatur, du kannst mich hierin töten und erhalten, ebenso gut, als wenn ich etwa im Feuer, Wasser, Durst oder anderer Gefahr angebunden wäre.“ – Wenn wir dagegen frei sind und vor dem Übel fliehen können, so sollen wir uns ebenso Gott anbefehlen und sagen: „Herr Gott, ich bin schwach und furchtsam, darum fliehe ich das Übel und tue so viel dazu, wie ich kann, dass ich mich davor hüte. Aber ich bin gleichwohl in deiner Hand, in diesem und allem Übel, die mir begegnen können, dein Wille geschehe.“

4.
Wer andere ansteckt, weil er bewusst sich und andere nicht schützt, ist vor Gott ein Mörder.

Noch schlimmer ist es, wenn jemand nicht auf sich achtet und sich nicht aktiv vor der Pest schützt und dadurch viele andere ansteckt, die ansonsten gesund und lebendig bleiben würden. „Er würde also auch seines Nächsten Todes schuldig und vielmal vor Gott ein Mörder. Fürwahr, solche Leute sind gerade, als wenn ein Haus in der Stadt brennte, dem niemand wehrte, sondern (man) ließe dem Feuer Raum, dass die ganze Stadt verbrennte, und wollte sagen: wills Gott tun, so wird er die Stadt wohl ohne Wasser und Löschen behüten.“

„Mutwillige Mörder und Bösewichte“ sind die, die die Pest „heimlich“ gehabt haben, und „andere Menschen damit beschmutzen und vergiften“ und sie andern „an den Hals hängen“ als „wäre die Sache ein solcher Scherz, als wenn man jemand zum Spaß Läuse in den Pelz oder Fliegen in die Stube setzt“.

„Hat nun Gott selbst im Alten Testament (3. Mose 13ff.) befohlen, die Aussätzigen aus der Gemeinde zu tun und (sie) außen vor der Stadt wohnen zu lassen, um die Ansteckung zu vermeiden, so sollten wir ja vielmehr ebenso bei dieser gefährlichen Krankheit tun, so dass, wo sie jemand kriegt, er sich alsbald selbst von den Menschen absondere oder absondern lasse und flugs mit Arznei Hilfe gesucht (werde). Da soll man ihm helfen und ihn in solcher Not nicht verlassen, auf dass so das Gift beizeiten gedämpft werde, nicht allein der einzigen Person, sondern der ganzen Gemeinde zugut, welche dadurch vergiftet werden könnte, wenn man die Krankheit so ausbrechen und unter andere kommen ließe.“

5.
Gott ist bei denen, die Kranke und Sterbende nicht allein lassen.

„Wo aber mein Nächster mein bedarf, will ich weder Orte noch Personen meiden, sondern frei zu ihm gehen und helfen.“

„Wo nun das Sterben hinkommt, da sollen wir, die da bleiben, uns rüsten und trösten, besonders die wir aneinander verbunden sind, dass wir uns nicht verlassen“.

„Es beweist auch die Erfahrung, dass die, welche solchen Kranken mit Liebe, Andacht und Ernst dienen, allgemein behütet werden, und wenn sie gleich auch angesteckt werden, dass (es) ihnen dennoch nicht schadet; gleichwie hier der Psalm (Ps. 41,4) sagt: ‚Du hilfst ihm auf von aller seiner Krankheit‘ … Wer auf diese tröstliche Verheißung solches tut, … derselbe hat hier wiederum einen großen Trost: dass sein wieder gewartet werden soll. Gott selbst will sein Wärter, dazu auch sein Arzt sein. O welch ein Wärter ist das! O welch ein Arzt ist das! Lieber, was sind alle Ärzte, Apotheken und Wärter gegen Gott? Sollte einem das nicht Mut machen, zu den Kranken zu gehen und ihnen zu dienen, wenn gleich so viel Beulen und Pestilenz an ihnen wären wie Haare am ganzen Leibe, und ob er gleich hundert Pestilenzen an seinem Halse heraustragen müsste. Was sind alle Pestilenz und Teufel gegen Gott, der sich hier zum Wärter und Arzt verbindet und verpflichtet? Pfui über dich und abermals pfui über dich, du leidiger Unglaube, dass du solchen reichen Trost verachten solltest, und dich von einer kleinen Beule und ungewissen Gefahr mehr schrecken, als durch solche göttliche, gewisse, treue Verheißung stärken lässt. Was hülfe es, wenn alle Ärzte da wären und alle Welt deiner warten müsste, Gott aber wäre nicht da? Und umgekehrt, was schadet‘s, wenn alle Welt von dir wegliefe und kein Arzt bei dir bliebe, wenn Gott aber bei dir mit solcher Verheißung bliebe? Meinst du nicht, dass du alsdann mit viel tausend Engeln umgeben bist, die auf dich sehen, dass du die Pestilenz mit Füßen treten kannst, wie im 91. Psalm (V. 11 ff.) steht: ‚Er hat seinen Engeln befohlen über dir, dass sie dich behüten auf allen deinen Wegen, dass sie dich auf den Händen tragen, und du deinen Fuß nicht an einen Stein stoßest. Über Löwen und Ottern wirst du gehen und junge Löwen und Drachen niedertreten.‘“

„Denn obwohl ich meine, dass alle Pestilenz durch die bösen Geister unter die Menschen gebracht werde, gleichwie auch andere Plagen, dass sie die Luft vergiften, oder (uns) sonst mit einem bösen Odem anblasen und damit die tödlichen Gifte in das Fleisch schießen,“ schreibt Luther. So sollten wir uns diesen Plagen „mit Geduld unterwerfen“, sollen „unserm Nächsten zu Dienst“ sein und „unser Leben so der Gefahr aussetzen …, wie 1. Joh. 3,16 lehrt und spricht: ‚Hat Christus sein Leben für uns gegeben, so sollen wir auch für die Brüder unser Leben lassen.‘“ 

Diese Zusammenfassung von Luthers Ausführungen („Martin Luther, die Pest und Colera“) hier als pdf-Datei. Der vollständige Aufsatz von Martin Luther „Ob man vor dem Sterben fliehen möge“ hier als pdf-Datei.
Bild oben: Willem Linnig (junior): Luthers Besuch bei den Pestkranken